Pfarrer sein in Wenigenjena

20. Januar 2016 von Jórg Gintrowski

Persönliche Jörg GintrowskiGedanken zu unserem besonderen Auftrag als Gemeinde und dem Dienst als Pfarrer in Wenigenjena

"Einer ist euer Meister, ihr aber seid untereinander alle Brüder und Schwestern" Mt 23,8; und Apg 2,44: "Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam… Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden." – Es geht uns um Jesus Christus und die Gemeinschaft, die durch ihn möglich wird. Bill Hybels sagt: "Wir haben eine doppelte gute Botschaft: Jesus ist für Dich gestorben und auferstanden – und: Du darfst in meine Gemeinde kommen!"

Drei Gemeinden – zwei Pfarrer

In der Region Wenigenjena sind die beiden Pfarrer für drei Gemeinden zuständig: Das Gemeindeleben der Dorfkirchengemeinde Ziegenhain ist typisch dörflich strukturiert. Das Gemeindeleben an der Schillerkirche wird eigenverantwortlich von der Gebetsbruderschaft getragen, mit Frau Eckstein als ordinierter Prädikantin. Die Gemeinde am Lutherhaus zeichnet sich durch folgende Besonderheiten aus.

Mit der Gemeinde leben und beten

Während an vielen Orten der Pfarrer/die Pfarrerin der Gemeinde gegenüber steht oder sozial einer anderen Schicht angehört, ist er im Lutherhaus selbst Teil von ihr. Wir leben das Gemeinde – Motto mit Haut und Haaren. Es lautet "Gott erfahren – Leben teilen". "Leben teilen" bedeutet z.B. für viele, den Zehnten für die Gemeinde zu geben und mit den Gemeindegliedern zu weinen, zu beten, zu feiern und zu lachen.

Team-Player gesucht

Während anderswo der Pfarrer/die Pfarrerin meist vorgibt, wo es lang geht, ist hier die Bereitschaft zum Hören, Nachgeben und Kompromisseschließen zwingend nötig: Nirgendwo sonst habe ich so geistlich reife und starke Älteste und Ehrenamtliche getroffen. Daneben ist die "Doppelspitze" mit zwei Pfarrern eine Herausforderung. Wer im Lutherhaus predigt oder leitet, muss Kritik annehmen, Fehler eingestehen und auch mal eigene Einsichten hinten anstellen können.

Hirte unter Hirten

In einem Kleinbetrieb macht der Leiter alles: die Arbeit auf der Baustelle, die Abrechnung, usw. In einem großen Betrieb kann der Leiter nicht überall dabei sein, soll aber motivieren, Ziele setzen, die Richtung vorgeben, Mitarbeiter gewinnen und begleiten, auch mal die Drecksarbeit machen – aus Demut und als Vorbild. Das Lutherhaus ist (im Vergleich gesprochen) ein Großbetrieb: Wollte hier ein Pfarrer/eine Pfarrerin alles wahrnehmen oder kontrollieren, würde er zum "Flaschenhals", der das Leben der Gemeinde kaputt macht. Ein Satz bei uns lautet: "Die Hauskreis- und Kleingruppenleiter sind die Hirten ihrer Leute." Sie wissen, wer krank oder frisch verheiratet ist. Der offizielle Pfarrer kann es nicht von allen Aktiven wissen und nicht auf alle reagieren. Trotzdem habe viele Gemeindeglieder diese unmögliche Erwartung, die aber nur in kleinen Gemeinden realistisch ist.

Theologisches Profil

Wir orientieren uns im "Luther"-haus an Luthers Verständnis des Evangeliums: Wir wollen keinen moralistischen, gesetzlichen, politischen oder frommen Druck, sondern die freie Gnade, die uns tröstet, stärkt und ermutigt. Aus ihr wollen wir leben und sie allen Menschen unserer Stadt verkündigen (Barmen 6). Zugleich gilt, "dass der Glaube gute Früchte bringen muss" (Augsburger Bekenntnis 6). Jeder Christ ist berufen zum Dienst – gemäß seinen, ihm von Gott gegebenen Gaben. Distanzierte Kirchlichkeit ist nicht erstrebenswert, sondern wir laden ein zur verantwortlichen Mitgliedschaft, in der jeder nach seinem Maß und seinen Grenzen zum Ganzen beiträgt. Wir bitten jeden um einen konkreten Dienst.

Unsere Grundwerte und Ziele werden zusammen gefasst im Wort: GNADE
G – wie Gemeinschaft
N – wie persönliche Christus-Nachfolge
A – wie Anbetung und Gebet
D – wie Dienst
E – wie Evangelisation.

Wir laden alle Menschen in Jena zum Glauben an Jesus Christus ein, weil alle seine Gnade brauchen. "Wir wollen unreligiöse Menschen zu einer Lebenswende führen, die aus ihnen voll hingegebene Nachfolger Christi macht." (Bill Hybels).

Ebenso verfolgen wir die 8 Qualitätsmerkmale wachsender Gemeinden (nach Christian Schwarz): leidenschaftliche Spiritualität; gabenorientierte Mitarbeiterschaft; bevollmächtigende Leitung; zweckmäßige Strukturen; inspirierende Gottesdienste; ganzheitliche Kleingruppen; bedürfnisorientierte Evangelisation und liebevolle Beziehungen.

Alle oben genannten Punkte wenden wir als Kriterien dafür an, worauf wir unsere Kräfte fokussieren und was wir als Konsequenz nicht machen.

Wir verbinden das Alte, die Schätze unserer Tradition, mit dem Neuen, das dem Volk Gottes geschenkt ist. Beides hat in unserer Liturgie seinen Platz. Was die modernen Lieder in unseren Gottesdiensten angeht, sind wir Teil einer weltweiten charismatischen Bewegung, so dass manche Gemeindeglieder diese schon von anderen Kontinenten und Sprachen her kennen.

Gemeinde-Struktur am Lutherhaus

Neben der klassischen Altersstaffelung (Christenlehre – Konfis – JG – Seniorenkreis) gibt es bei uns als Ordnungsprinzip den Wechsel von:

  • Vollversammlung (Gottesdienst) und
  • Kleingruppe (Hauskreis) oder Dienstgruppe (Musikteam, Küster, EDV, usw.).

Unser Ideal ist, dass jeder in einer Kleingruppe und/oder einer Dienstgruppe mitmacht und sonntags im Gottesdienst anzutreffen ist. Das bedeutet 2-3 Gemeindetermine pro Woche. Wir haben festgestellt, dass über diese Menge hinaus die meisten Christen nicht bereit sind, ihre Freizeit einzusetzen. Darum ist die Teilnahme der "Lutherhäusler" an überregionalen Events nicht sehr hoch.

Äußere Struktur: Drei faktische Gemeinden – Region – Kirchengemeinde

Was die äußere Struktur betrifft ist, die Gemeinde am Lutherhaus mit der Schillerkirche und Ziegenhain eine Region der Kirchengemeinde Jena, die zum Kirchenkreis Jena gehört. Die geistliche Leitung hat die Gemeindeleitung Wenigenjena inne; die juristische der Gemeindekirchenrat der Gesamtgemeinde Jena, in dem wir mit Delegierten vertreten sind.  Faktisch sind Lutherhaus, Ziegenhain und Schillerkirche drei selbständig lebende Gemeinde mit ganz eigenen Rhythmen und Erwartungen! Dennoch sind diese drei starken Gemeinden im juristischen Sinn keine selbständigen Gemeinden, sondern bilden zusammen den Gemeindebezirk Wenigenjena der Gesamtkirchengemeinde Jena. Wegen dieser Konstruktion hat unsere Gemeindeleitung formal sehr viel weniger zu sagen, als z.B. der Gemeindekirchenrat der selbständigen Gemeinde Beutnitz.

Arbeitsumfang

Die Vorstellung "viele Ehrenamtliche = weniger Arbeit" ist eine Illusion.  Vielmehr gilt im Lutherhaus die Regel: "Der Pfarrer für die Mitarbeiter, die Mitarbeiter für die Gemeinde". Nicht die Hauptamtlichen machen allein die praktische Gemeindearbeit, sondern sie leiten die Gemeindeglieder an, dies zu tun.

Es ist uns wichtig, dass jeder Mitarbeiter als Person gewürdigt wird und nie bloss in seiner Aufgabe funktionalisiert. Das bedeutet: Die Pfarrerin./ der Pfarrer muss Zeit für sie haben und auch für ihre persönlichen Probleme da sein.  Sie dürfen mit ihren Aufgaben nicht allein gelassen werden. Darum besteht ein wesentlicher Teil der Arbeit in der Begleitung der Mitarbeiter, in der Motivation und Ermutigung.

Schwerpunkte des missionarischen Gemeindeaufbaus

Wir sind eine Profilgemeinde. Darum kommen unsere Mitglieder aus bis zu 100 km Umkreis. Aus diesem missionarischen und gemeinschaftlichen Profil ergeben sich Arbeitsfelder, die für uns genauso wichtig sind, wie die normalen pfarramtlichen Arbeitsfelder (Konfirmanden, Seelsorge,Gottesdienst, Verwaltung). Beide Pfarrpersonen teilen sich dabei folgende Aufgaben, die am Lutherhaus typisch sind:

  • Entwicklung und Durchführung von Glaubensseminaren (3 verschiedene: Einsteiger- Gabenseminar- Weiterführende)
  • Management und Organisation von Teams und Projekten
  • Missionarische Aktivitäten in der Evangelischen Allianz wie ProChrist u.a.
  • Begleitung und Besuch der Hauskreise zu theologischen Referaten und Diskussionen
  • Intensive Anleitung, Gewinnung und Begleitung Ehrenamtlicher
  • Projekt-Planung und Durchführung von wöchentlich 3 verschiedenen Gottesdiensten in Abstimmung mit jeweils verschiedenen Mitarbeiter- Teams (dazu kommen Gottesdienste in der Schillerkirche und Ziegenhain).

Diese Aufgaben sind nicht willkürlich gewählt, sondern zwingend, wenn man missionarischen Gemeindeaufbau anstrebt.  Um dieses Profil möglich zu machen, braucht es eine Sonderpfarrstelle, die der Förderverein eingerichtet hat. Dies hat sich über 12 Jahre hinweg bewährt.

Heilige Kühe verabschieden

Weil wir so wie oben definiert haben, was wir Neues tun, mussten wir dafür auf konventionelle Pfarreraufgaben verzichten und durchsetzen, was wir nicht mehr tun. Prioritäten zu setzen, bedeutet auch Posterioritäten zu benennen. So ist z.B. das, was sonst zum Standard gehört und als "heilige Kuh" gilt, nämlich Geburtstagsbesuche der Pfarrperson bei alten Gemeindegliedern, hier seit Jahren abgeschafft. Das ist schade, aber es ist der Preis für das Neue.

Geistlicher Tiefgang/das geistliche Niveau

Die Erwartungshaltung an Predigten, Seminare und Lehre ist hoch: Eine persönliche Auseinandersetzung mit der Aussageabsicht des Predigttextes wird vom Prediger ebenso erwartet wie eine relevante Auslegung auf den Alltag der Gemeindeglieder hin. Es geht sowohl um eine intensive Auslegung des Bibelwortes, als auch um seine konkrete Anwendung. Sie fragen: "Was soll ich in der nächsten Woche aufgrund dieser Predigt neu glauben, ändern, hoffen, tun oder lassen?" Die Verkündigung und Lehre wird immer wieder diskutiert und kritisch angefragt; die theologischen Auffassungen der Gemeindeglieder sind bei uns sehr bunt. Sie wollen "Schwarzbrot" statt konventioneller kirchlicher Formeln.

Persönliches Nachwort

Ich persönlich finde es hoch motivierend, in dieser Gemeinde Pfarrer zu sein, die die beschriebene Vision verfolgt. Darum erlebe ich das Pfarrersein am Lutherhaus als ein ganz besonderes Glück.

Mitarbeit: Gerhard Jahreis, Hartmut Reibold, Hanna Kauhaus und Alexander Humbsch